Südkurier - Fragen von Max Frisch

27. August 2020

Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht, wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?
Ich bilde mir nichts darauf ein, dass ich noch nie das Gesetz gebrochen habe. Meine weiße Weste weist nicht in erster Linie darauf hin, dass ich ein guter Mensch bin, sondern vor allem darauf, dass ich großes Glück mit meinen Lebensumständen hatte. Wäre ich anderswo geboren, unter weniger glücklichen Bedingungen, wer weiß, wozu ich gezwungen gewesen wäre. Zwar bin ich ein friedliebender Mensch und möchte aus einem gut entwickelten Empathie-Empfinden heraus niemandem schaden, aber was ist darüber hinaus der Hauptgrund für ein gutes Führungszeugnis? Moralisches Denken? Moral muss man sich auch leisten können. Bestimmt ist auch die Fähigkeit, einen anderen Menschen zu ermorden, in uns allen vorhanden. Niemand kann sich theoretisch davon freisprechen, unter extremen Umständen zu töten – zur Selbstverteidigung, wenn das eigene Kind mit dem Leben bedroht wäre oder wenn man in den Krieg geschickt würde. Dass ich noch nie einen Menschen getötet habe, erkläre ich mir also vor allem hiermit: Glück.

Wenn es Ihnen um die Erfindung eines Gerätes geht, das öffentliche Lügen unmöglich macht: wen können Sie sich als Geldgeber für Ihre kühne Forschung denken?
Eine spannende Frage! Denn was hätten typische Geldgeber wie Banken, die Politik, Wirtschaftsunternehmen oder die Kirche denn davon, wenn nicht mehr gelogen werden könnte? Wenn man sich bei diesen Säulen der Gesellschaft aber keine ausreichende Motivation vorstellen kann, bedeutet dies im Umkehrschluss wohl, dass unsere Welt in der jetzigen Form ohne Lügen nicht denkbar ist. Oder doch? Hier eine verwegene Idee: crowdfunding! Läge es nicht im Bereich des Möglichen, dass sich fernab von finanzstarken Geldgebern genügend Bürger*innen aus dem Volk zusammenfänden, den Antilügomat zu subventionieren? Sehnt sich die Zivilbevölkerung aber überhaupt in diesem Maße nach Wahrheit? Vielleicht gäbe auch eine reiche Instagram-Influencerin, die die Welt retten will, ihr Vermögen auf. Oder ein Bestseller-Autor, der an das Gute glaubt. Oder ein millionenschwerer Superstar, der seinen Kindern lieber eine ehrliche Welt als sein Geld vererben will. Bevor ich glaube, dass niemand eine solche Forschung finanzieren würde, glaube ich lieber an das Unwahrscheinliche.